Die Entstehung der Marburger Völkerkunde
Das Fach Völkerkunde hatte längst nicht von der Universitätsentstehung 1527 an einen Platz an der Universität. Es dauerte bis in die 1960er Jahre hinein, bis die Völkerkunde an der Philipps-Universität als eigenständig anerkannte Disziplin etabliert war. Fachleute aus den Nachbardisziplinen, wie der Philosophie, Medizin und seit den 1920er Jahren allen voran der Geografie, hatten starkes Interesse an der Etablierung einer eigenen Wissenschaft Völkerkunde, die ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte auf Lateinamerika einerseits und dem ethnologischen Museum andererseits verwirklichen sollte.
Jahrhunderte vor dem eigentlichen Entstehungsdatum des Fachgebietes Völkerkunde um 1890 setzte Hans Staden im 16. Jahrhundert den ersten Meilenstein in der Entwicklung der Marburger Völkerkunde. Als hessischer Landsknecht reiste Staden zweimal nach Südamerika und verfasste über seine dortigen Abenteuer das vielgelesene und über hundertmal wieder aufgelegte Werk „Warhaftig Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden und Nacketen Grimmigen Menschenfresser Leuthen in der Newenwelt America gelegen“, eine der ersten und wertvollsten Quellen über die UreinwohnerInnen Südamerikas, wovon die Erstausgabe durch Johann Dryander in Marburg im Jahr 1557 erschien.
Ein ebenfalls sehr bedeutendes sechsbändiges Werk aus der Geschichte der Völkerkunde über „Die Anthropologie der Naturvölker“ verfasste beinahe 300 Jahre später der ethnologisch interessierte Philosophieprofessor Franz Theodor Waitz, der 1844 an die Marburger Universität kam.
Der eigentliche Beginn der Wissenschaft Völkerkunde in Marburg ist aber auf die Umhabilitierung von Karl von den Steinen für das Fach Völkerkunde zurückzuführen. Expeditionen zu den Kamayurá, Trumai und anderen Ethnien des oberen Xingú, führten ihn zweimal nach Zentralbrasilien. In seinem 1894 erschienenen Werk „Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens. Reisebeschilderung und Ergebnisse der Zweiten Schingú-Expedition 1887-1888“ verarbeitet er seine Erlebnisse. Das immer noch als Standardwerk früher ethnografischer Erforschung Brasiliens geltende Werk fertigte er wahrscheinlich zu nicht geringen Teilen in Marburg an. 1892 verließ er Marburg mit der Begründung, er könne hier nicht lehren, da es keine Lehrsammlung gäbe.
Dies war ein Problem, an dem sich wohl auch Theodor Koch-Grünberg störte, da er sich zwar zuerst nach den Arbeitsmöglichkeiten an der Marburger Universität erkundigte, aber schließlich aufgrund der fehlenden Sammlung nicht nach Marburg kam. Trotzdem erhielt die Völkerkundliche Sammlung in den späten 1990er Jahren den Nachlass des bekannten Südamerikanisten aus jener Zeit (Anfang des 20. Jahrhunderts) von seinen Kindern.
Erst mit Heinrich Ubbelohde-Doering habilitierte sich nach Karl von Steinen wieder ein Gelehrter für das Fach Völkerkunde. In seine Wirkungszeit fallen zwei bedeutende Ereignisse: 1929 trafen 378 Sammlungsgegenstände vom Berliner Völkerkundemuseum als Grundstock für die zukünftige Völkerkundliche Sammlung in Marburg ein. Im selben Wintersemester wurde das Fach Völkerkunde außerdem zum ersten Mal eigenständig im Vorlesungsverzeichnis aufgeführt.
Vor allem Martin Block ist die Erweiterung der Völkerkundlichen Sammlung und ihre Trennung 1953 von der Geografie zu verdanken. Seit dem Wintersemester 1957/1958 fanden regelmäßige praktische Übungen zur Bestimmung ethnografischer Objekte statt, die nun in einer eigenen Lehr- und Studiensammlung durchgeführt werden konnten.
1963 wurde eine ethnologische Dozentur eingerichtet und mit Horst Nachtigall besetzt, der fünf Jahre später offiziell zum Direktor des Völkerkundlichen Seminars ernannt wurde. Seit 1979 schließlich wird die Völkerkundliche Sammlung nicht mehr rein zu Studienzwecken genutzt, sondern steht der breiteren Öffentlichkeit in Gestalt von Wechselausstellungen zur Verfügung.
Als Nachfolger Nachtigalls kam 1989 Mark Münzel vom Frankfurter Museum für Völkerkunde nach Marburg. Münzel unternahm zahlreiche Forschungsreisen nach Brasilien, Peru und Ecuador und führte so die Tradition der inhaltlichen Schwerpunktsetzung auf Lateinamerika und Museumsethnologie fort. 1993 gründete er zusammen mit Bettina E. Schmidt, Antje van Elsbergen, Christian Häusler, Bringfried Koch, Thomas Mennicken, Gisela Reppel, Sabine Beer und Kristina Baukamp den Förderverein „Völkerkunde in Marburg“ e.V.
Eine strukturelle Veränderung erfolgte noch einmal im Jahr 2001, als sich die Fachgebiete Völkerkunde und Religionswissenschaft zum „Institut für Vergleichende Kulturforschung – Religionswissenschaft und Völkerkunde“ zusammenschlossen.
Mark Münzel trat 2008 in den Ruhestand. Sein Nachfolger ist Ernst Halbmayer. 2010 wurde das Fachgebiet Völkerkunde zum Fachgebiet Kultur- und Sozialanthropologie umbenannt und 2021 wiederum in Sozial- und Kulturanthropologie.
Literatur:
Nachtigall, Horst [o.J.]: Die Völkerkundliche Sammlung Marburg. Marburg: [o.A.]. 50 S.
Voell, Stéphane 2001: >…ohne Museum geht es nicht<. Die Völkerkundliche Sammlung der Philipps-Universität Marburg. Marburg: Förderverein für „Völkerkunde in Marburg e.V.“. 256 S.